Modellbahn-Revolutionen der 80er: Digitalsteuerung

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Thomas Ray Dolby
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Nov 2022 26 01:04

Modellbahn-Revolutionen der 80er: Digitalsteuerung

Beitrag von Thomas Ray Dolby

Eine der größten technischen Herausforderungen bei der Modellbahn war, auf einer und derselben Anlage mehrere Triebfahrzeuge zu haben, aber nur eins davon zu fahren – und nicht alle auf einmal. Man kennt das ja von Anfängeranlagen, daß man mehrere Loks hat, aber immer nur eine davon aufgegleist ist, weil man keine Möglichkeit hat, eine zweite Lok – oder gar mehr als die – am Fahren zu hindern. Also steht eine Lok im Gleis und die anderen irgendwo daneben.

Bei frühen Schauanlagen in der Zwischenkriegszeit, zumeist noch auf Tischen aufgebaut, weil der Geländebau noch längst nicht so weit war wie heute, löste man das Problem, indem man zwei, drei oder mehr Schienenovale ineinander aufbaute, die nicht miteinander verbunden waren. Auf jedem Oval fuhr ein Zug jeweils mit eigenem Fahrregler. Aber, wie gesagt, die einzelnen Strecken waren nicht über Weichen miteinander verbunden, was die Anlage noch unrealistischer machte als sowieso schon und jeglichen Rangierbetrieb unmöglich.

Erst Fortschritte in der Werkstofftechnik in der Nachkriegszeit machten es möglich, Gleisabschnitte teilweise oder vollständig voneinander zu isolieren. Zum einen ermöglichte das Signale mit Zugbeeinflussung: Vor einem roten Signal führte zumindest ein Leiter keinen Strom, und ein vorm Signal stehender Zug konnte nicht fahren. Zum anderen konnten damit auch ganze Anlagen in mehrere Stromkreise mit jeweils eigenem Trafo oder Fahrgerät (Fahrgerät und Trafo in einem sollte ja noch jahrzehntelang erlaubt und somit der Standard bleiben) aufgeteilt werden, und trotzdem konnten diese Anlagenteile miteinander verbunden sein. Mit ein bißchen Geschick konnte man einen Zug also auch von einem Stromkreis in einen anderen übergehen lassen.

Dennoch war man immer noch daran gebunden, über welche Bereiche der Anlage sich nun welcher Stromkreis erstreckte. Und in jedem Stromkreis sollte idealerweise auch wieder immer nur ein Triebfahrzeug komplett unter Strom stehen.

Der nächste Trick war dann, mehr als einen Stromkreis auf demselben Gleis zu haben. Am „einfachsten“ ging das mit einer funktionsfähigen Oberleitung, auf der nun ein Leiter anlag und der andere nach wie vor am Gleis. Das brachte die nächsten Probleme mit sich.

Erstens ging das natürlich nur, wenn mindestens eins der beiden Triebfahrzeuge ein elektrisches war, also mindestens einen Stromabnehmer hatte. Mit zwei Dampf- oder Dieselloks ging das nicht.

Zweitens mußte zumindest das Fahrzeug, das auf Oberleitung lief, richtig gedreht sein (außer bei Märklin H0, wo die Stromaufnahme traditionell symmetrisch ist).

Drittens hatte man den Mehraufwand, Oberleitungen zu verbauen. Bei einfachen, nicht fest montierten Tischanlagen war das zuviel des Aufwandes.

Viertens war es schwierig genug, vor Signalen auch Oberleitungsabschnitte zu isolieren, und zwar so, daß es optisch nicht störte.

Und fünftens waren Oberleitungen generell, je schöner und realistischer sie aussahen, um so weniger betriebssicher. Große Schauanlagen wie das Miniatur-Wunderland haben zwar Oberleitungen, aber alle elektrischen Lokomotiven und Triebwagen fahren abgebügelt umher. Umgekehrt waren die alten Stanzblechoberleitungen von z. B. Märklin sehr betriebssicher, sahen aber so grauenvoll aus, daß sie meistens nur mit Spielzeuggleisen kombiniert wurden. In den 90ern war übrigens der kuriose Punkt erreicht, wo man in den Märklin-H0-Katalogen weiterhin die Stanzblechoberleitungen vorfand, auf Fotos von Anlagen im selben Katalog aber Sommerfeldt-Oberleitungen zu sehen waren.

Trix ging in H0 mit Trix Express noch einen Schritt weiter und brachte ein Dreischienen-Dreileiter-System: Jedes Fahrzeug bezieht seinen Fahrstrom aus einer der beiden normalen Schienen oder der Oberleitung, so vorhanden, und der Mittelschiene. Das machte vom Fleck weg zwei unabhängig voneinander steuerbare Triebfahrzeuge im selben Gleis möglich, mit Oberleitung drei. Zu den schon genannten Nachteilen kamen nun aber die unansehnlichen Gleise mit Mittelschiene hinzu, außerdem waren die Trix-Express-Modelle selbst beileibe keine Augenweiden.

In den 70ern war dann das Zeitalter der Elektronik angebrochen, aber Digitaltechnik war noch exotisch und sagenhaft teuer. Im Modellbahnbereich grassierten also analoge Lösungen für alles Mögliche. Beim Fahrbetrieb begann man, mit Oberwellen zu experimentieren und auf dieser Basis Mehrzugsysteme zu entwickeln. Das bekannteste System dürfte Trix e·m·s gewesen sein, das in jedem Stromkreis zwei Triebfahrzeuge erlaubte: eins mit e·m·s-Decoder, eins ohne. In Verbindung mit Trix Express konnten sechs (!) Triebfahrzeuge im selben Gleis „unabhängig“ voneinander gefahren werden – allerdings alle nur in dieselbe Richtung. Außerdem muß angezweifelt werden, ob diese Oberwellen für die Gleichstrommotoren so verträglich waren.

Der DDR-Hersteller PIKO nutzte übrigens solche Oberwellentechnik nicht als Mehrzugsteuerung, sondern für „Lux Konstant“, ein System, das die Beleuchtung von Modellbahnfahrzeugen unabhängig von der gefahrenen Geschwindigkeit regelte.

Über das nächste knappe Jahrzehnt breitete sich die Digitaltechnik immer mehr aus. Je mehr davon gebaut und verkauft wurde, desto größere Stückzahlen wurden produziert, desto billiger wurde die Technik. Gleichzeitig wurde sie kleiner und leistungsfähiger. Schnell war ein Punkt erreicht, an dem sich Digitaltechnik auch bei der Modellbahn lohnte.

Die ersten Anfänge kamen allerdings nicht von Großserienherstellern. Kaum daß e·m·s auf dem Markt war, machten sich die Herren Doehler und Haas (D&H) daran, eine digitale Modellbahnsteuerung zu entwickeln. Die sollte das, was e·m·s versuchte, sehr viel besser können, und zwar fahrtrichtungsunabhängig und ohne das Herumgehampel mit mehr als zwei Leitern. Dabei beschränkten sie sich nicht einfach nur auf die grundlegende Fahrsteuerung, sondern sie integrierten auch eine Lastregelung, so daß am Fahrgerät nicht die Fahrspannung eingestellt wurde, sondern die tatsächlich gefahrene Geschwindigkeit. Auch andere Anlagentechnik sollte digital gesteuert werden, was den Verkabelungsaufwand drastisch reduzieren sollte. 1979 wurden dazu Patentanträge eingereicht.

Man sollte nun meinen, daß mindestens ein Großserienhersteller das D&H-System lizensiert hätte, um Trix auszustechen. Tatsächlich war es aber Trix selbst, die das System lizensierten und 1982 als Selectrix auf den Markt brachten. Ganz offensichtlich hatten sie begriffen, daß e·m·s unterm Strich eine erbärmliche Krücke war, und die nächstbeste Gelegenheit genutzt, es zu ersetzen. Außerdem spekulierte man darauf, die Decoder so einschrumpfen zu können, daß Selectrix auch bei Minitrix Einzug halten kann.

Natürlich konnten die beiden traditionellen Hauptkonkurrenten von Trix in der Baugröße H0 nicht tatenlos dabei zusehen. 1984 stellte Märklin sein eigenes System auf Basis von Motorola-ICs vor, Märklin digital, das im Funktionsumfang Selectrix ähnelte, wobei Lastregelung erst Jahre später und auch nur für bestimmte Motoren eingeführt wurde. 1985 präsentierte Fleischmann die Fleischmann-Mehrzugsteuerung, kurz FMZ, die sich rein auf die Steuerung des rollenden Materials spezialisierte.

Besonders Märklins Präsenz als Marktführer zeigte, wozu Digitalsteuerungen damals schon fähig waren. Märklin digital ermöglichte es etwa, 80 (!) Triebfahrzeuge unabhängig voneinander zu steuern, und zwar ohne mehrere Stromkreise und ohne Stromunterbrecher. Statt wie bisher über die Spannung am Gleis wurden die Fahrzeuge nun über digitale Befehle gesteuert. Die Gleisspannung blieb konstant, so daß erstmals ohne Basteleien wie Oberwellentechnik oder große Kondensatoren die Beleuchtung auch im Stand leuchtete. Die Märklin-digital-Lokdecoder hatten anfangs nur eine Zusatzfunktion; über diese konnte die Beleuchtung der Triebfahrzeuge abgeschaltet werden.

Fleischmanns FMZ ermöglichte derweil variable Gleisspannungen, so daß auch Fahrzeuge ohne Decoder auf althergebrachte Art und Weise gesteuert werden konnten. Der Steuerbus arbeitete auch mit extrem geringen Spannungen.

Bei Märklin und Trix konnten von Anfang an auch Weichen, Signale und andere technische Einrichtungen auf der Anlage digital gesteuert werden. Alles inklusive der Fahrzeuge hing an einem zweiadrigen seriellen Bus, der sich über die ganze Anlage erstrecken konnte. Im Grunde konnte man Weichen, Signale, Entkupplungsgleise und dergleichen direkt ans Gleis anschließen, wovon aber zugunsten zuverlässigerer tatsächlicher Steuerkabel abgeraten wurde. Märklin traute den eigenen Schienenverbindern nicht.

Zumindest Märklin digital ermöglichte auch eine Anbindung an Heimcomputer mittels RS232-Seriellport und entsprechender Software.

Natürlich ruhte man sich nicht auf den Lorbeeren aus. Gerade Märklin entwickelte sein System kontinuierlich weiter. So entstand etwa schon nach kurzer Zeit eine Fahrstraßensteuerung, und noch etwas später gab es Decoder mit bis zu fünf Zusatzfunktionen nebst neuem Fahrgerät – das blöderweise das bisherige Fahrgerät obsolet machte.

Kurz nach Märklin brachte Arnold ein Digitalsystem für die Baugröße N – nach Selectrix und FMZ eigentlich schon das dritte –, das eine frappierende Ähnlichkeit zu Märklin digital aufwies bis hin zum Gehäusedesign der Steuergeräte und sogar „Arnold digital“ genannt wurde. Es war im Prinzip dasselbe System, aber an Gleichstrom und kleinere Fahrzeuge angepaßt.

Erst 1989 – und auch wieder in Deutschland – gab es einen ersten Versuch, die Herstellerbindung zu brechen: Lenz Elektronik entwickelte ein eigenes Digitalsystem für Märklin-Wechselstrom- und Arnold-Gleichstrom-Fahrzeuge und -Anlagentechnik. Märklin und damit auch Arnold zogen sich aus der Kooperation zurück, aber Lenz entwickelte sein System herstellerunabhängig als Digital Plus weiter.

1993 diente Lenz Digital Plus letztlich als Basis für das von der NMRA, dem amerikanischen Pendant zum MOROP, standardisierte System Digital Command Control (DCC), das heute im Gleichstrombereich den Digitalstandard darstellt. Weil es bis auf das Markenzeichen ein freies, offenes System ist, wurde es von etlichen anderen Herstellern übernommen, darunter nicht nur Zubehörhersteller wie Uhlenbrock oder Zimo, sondern auch Roco.



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