Modellbahn-Revolutionen der 70er/80er: Norm-Kupplungsschacht und Kurzkupplung

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Thomas Ray Dolby
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Okt 2022 09 22:15

Modellbahn-Revolutionen der 70er/80er: Norm-Kupplungsschacht und Kurzkupplung

Beitrag von Thomas Ray Dolby

Die späten 60er waren ein revolutionäres Zeitalter. Auch in der Modellbahn gab es Bestrebungen, Etabliertes durch Neues zu ersetzen, wenn das Neue besser war. So fand der in Paderborn ansässige Modellbahner Rolf Ertmer die Fahreigenschaften von Modellbahnzügen, wenn man sie über das Herumgeschrubbe auf den Sekundärwindungen eines Ringkerntrafo steuerte, wenig optimal, von realistisch ganz zu schweigen. So baute er das REPA 68, eins der ersten Elektronikfahrpulte, mit dem im Gegensatz zu später erschienenen Konkurrenzprodukten von Roco sogar Faulhaber-Glockenankermotoren umgehen konnten. Die Bedienung war von realen Loks und Triebwagen inspiriert.

Ein anderer Revoluzzer war Willy Ade, Mitgründer des kunststoffverarbeitenden Unternehmens Röwa. Im Gegensatz zu Ertmer war er also kein Boutique-Bastler, sondern er hatte eine ganze Fabrik hinter sich. Und diese Fabrik fertigte im Auftrag ausgerechnet von Trix. Vielleicht erinnert sich noch jemand mit wohligem Grausen an die alten D-Zug-Wagen von Trix Express. Nur 23,5 cm kurz, mit weniger Fenstern als in echt und mit möglichst wenig Formvarianten. Die hat Ade konstruiert. Konstruieren müssen. Gegen seinen Willen.

Er hätte sie lieber vorbildgerecht, in einem Längenmaßstab von zumindest 1:100 (26,4 cm) und mit der korrekten Anzahl von Fenstern konstruiert, zumindest für Trix International. Wollte Trix aber partout nicht, sondern statt dessen die stummeligen, unrealistischen 23,5-cm-Wagen. Die Konkurrenz hatte ja auch nichts wirklich Besseres. Märklin beispielsweise baute immer noch Wagen aus lithographiertem Feinblech – zumindest waren bei denen die Aufschriften aber aufgedruckt und nicht erhaben aufgespritzt.

Was Ade auch noch störte, war der Riesenabstand zwischen den Wagen. Geschlossene Übergänge mit Faltenbälgen oder Gummiwülsten waren in H0 gut und gerne einen Zentimeter auseinander. Und das schicke Bild, das moderne Wagen mit Gummiwulstübergängen im Zugverband abgaben, wo die Wagenkästen nur noch 70 cm voneinander entfernt waren, kam bei der Modellbahn nicht zustande. Schuld hatten Kupplungstechnologien von Anno Tobak, als es noch nicht anders ging, vor allem, weil als Kunststoff nur Bakelit zur Verfügung stand.

Überhaupt Kupplungen: Während ausländische Hersteller sich brav an die NEM-Normen hielten, versuchten sich Märklin, Trix und Fleischmann, die großen Drei aus dem Mutterland der NEM, fleißig im Vendor-Lock-in. Märklins Kupplungskopf – abzüglich der geschützten Vorentkupplung – war ja vom MOROP als NEM 360 standardisiert worden, aber Trix und Fleischmann sorgten schön dafür, daß ihre Produkte nicht mit Fremdfabrikaten kuppelbar und dieser Umstand auch möglichst nicht behebbar war. Die Kupplungsköpfe der Konkurrenz sollten nur mit gigantischem Bastelaufwand oder idealerweise überhaupt nicht an eigenen Fahrzeugen anzubringen sein und umgekehrt.

Irgendwie kann man Willy Ade verstehen, warum er tat, was er tat. Nachdem Röwa und Trix sich 1968 im Streit getrennt hatten, entwickelte er nicht nur endlich Reisezugwagenmodelle im konsequenten Längenmaßstab von immerhin 1:100 – das war ja alleine schon unerhört – und zum allerersten Mal überhaupt mit korrekter Fensteranzahl, sondern er erfand im Grunde genommen die Modellbahnkupplung neu. Und damit die Kurzkupplung.

Bis dahin waren Kupplungen an Loks und Wagen ja starr angebracht, entweder am Wagenkasten oder gerade bei längeren Modellen an den Drehgestellen. Märklin hatte bei einigen Wagen sogar Drehgestell und Kupplung als ein Blechpreßteil. Für Kurvenfahrt brauchten die Kupplungsköpfe natürlich entsprechend Seitenspiel. So war es im Prinzip, seit es Spielzeugeisenbahnen gab. Den Abstand zwischen den Fahrzeugen diktierten die Bogenradien, denn in den Kurven kamen ja die bogeninneren Puffer bzw. Kastenecken einander näher.

Für realistische Fahrzeugabstände brauchte man bis dahin Eigenbaukupplungen, Federpuffer und sehr große Bogenradien, und auch Faltenbälge und Gummiwülste mußten durch flexible Eigenbauten ersetzt werden. Ein Schweineaufwand, zumal es noch nichts davon irgendwo fertig zu kaufen gab.

Ade machte hier alles anders. Daß auf einmal der Kupplungskopf einzeln ausschwenken konnte, war eine Sache. Der Clou an der Kurzkupplung war aber ihre Konstruktion mit zwei Anschlägen, einer Kulissenführung und einer Rückstellfeder, die dafür sorgte, daß der Kupplungskopf nach links um eine andere Achse schwenkte als nach rechts – und sich dadurch beim Ausschwenken vom Fahrzeug wegbewegte. In Kurven wurde so der Kupplungsabstand vergrößert. Die bogeninneren Puffer kamen einander nicht mehr näher, sondern eher entfernten sie sich sogar ein kleines Stück voneinander. In der Geraden war derweil der Kupplungsabstand so eng, daß Gummiwülste oder ausgefahrene Faltenbälge nur noch Millimeterbruchteile voneinander entfernt waren, wenn überhaupt.

Im Grunde milderte das sogar das Gejammer der Modellbahner ab, daß die – immer noch verkürzten – Röwa-Wagen „zu lang“ seien: Die Kurzkupplung sparte pro Wagen gut und gerne einen Zentimeter Zuglänge wieder ein.

Mit herkömmlichen Kupplungsköpfen funktionierte die Kurzkupplung aber nicht gut und im Schiebebetrieb überhaupt nicht. Ade mußte also einen ganz neuen Kupplungskopf entwickeln, der mit seinesgleichen gekuppelt eine starre Deichsel bildete. Schlauerweise führte er den Kopf so aus, daß händisches Entkuppeln viel einfacher wurde als bei bisherigen H0-Kupplungen: Man mußte eins der zu entkuppelnden Fahrzeuge einfach hochheben.

Nachteilig bei diesem Kupplungskopf war allerdings, daß er nur mit sich selbst kuppelbar war. Deswegen war er bei Röwa optionales Zubehör, und standardmäßig hatten die Wagen NEM-360-Normkupplungen. Erstmals in der Geschichte der Modellbahn konnte er aber mit wenig bis ganz ohne Werkzeug gewechselt werden, denn Ade entwickelte auch eine ganz neue Form der Kupplungsaufnahme in Form eines quaderförmigen Kunststoffschachts. In den wurde der Kupplungskopf, der am Fahrzeugende einen Schwalbenschwanz hatte, einfach eingeklipst. Zur Entnahme drückte man die Haltenasen des Schwalbenschwanzes zusammen und zog den Kupplungskopf aus dem Schacht. An Werkzeug brauchten allenfalls Grobmotoriker und Leute mit dicken Wurstfingern eine Pinzette.

Ein Vorgeschmack dessen, was noch kommen sollte, war, daß Röwa mit genau dieser Kupplungsaufnahme auch Nachrüst-Kupplungsköpfe nach Fleischmann- und Trix-Express-Standard anbot. Gerade gegenüber den Trix-Wagen waren die von Röwa ein gewaltiger Fortschritt.

Röwa selbst hatte nicht mehr lange Bestand: 1975 wurde die Firma abgewickelt. Der Großteil der Modellbahntechnik ging nach Österreich zu Roco, insbesondere die meisten Wagen – damit auch die vielen kurzkuppelbaren Reisezugwagenmodelle – und die Kupplungstechnik. Nicht nur beim Prinzip der Kurzkupplung verzichtete Roco auf rechtliche Schutzmaßnahmen, sondern insbesondere beim Kupplungsschacht. Während Willy Ade diesen mit seiner neuen Wagenbausatzfirma Ade weiterentwickelte und noch ein Stück verkleinerte, wurde der ursprüngliche Röwa-Schacht vom MOROP als NEM 362 genormt, um den Kupplungswildwuchs in H0 einzudämmen.

Jahrelang waren nun Roco und Ade die einzigen Hersteller von Fahrzeugen mit Kupplungsschächten und Kurzkupplung. Erst in den 80ern bemerkten andere Hersteller kleckerweise, daß die Technik kein geschütztes Eigentum von Roco bzw. Ade war, sondern teilweise sogar NEM-Norm. Sie mußten nur Kupplungsköpfe entwickeln, denn einen NEM-Normkurzkupplungskopf gab es nicht.

Ausgerechnet Märklin – dieser „Anti-Modellbahnhersteller“, der immer noch Fertigungsmethoden aus der Vorkriegszeit kultivierte von Blechwagen bis zu Lokaufbauten aus Druckguß, der filigrane Zurüstteile verweigerte, der auf häßlichen „Pickelgleisen“ mit schlimmstenfalls lithographierter Feinblechbettung fuhr, der von den Nietenzähler-Hofpostillen wie Eisenbahn-Magazin so systematisch gemobbt wurde, wie Roco allein für den Markennamen Vorschußlorbeeren kassierte –, ausgerechnet dieser „berüchtigte“ Hersteller lancierte 1984 drei Modelle vierachsiger Umbauwagen. Mit Kurzkupplungen. Mit einem hauseigenen Kupplungskopf, der mit NEM 360 kuppelbar war. Und zu allem Überfluß waren die Wagen auch noch schicker als die anderthalb Jahrzehnte alten entfeinerten Röwa-Konstruktionen, die Roco immer noch anbot.

Zugegeben, die Nietenzähler kritisierten die preußischen Regeldrehgestelle, die nie unter einem 1./2.-Klasse-Umbauwagen zu finden waren. Aber die Welle war ins Rollen geraten. Märklin selbst setzte zunehmend auf Kurzkupplungen und ersetzte 1988 gar einen Großteil des H0-Sortiments durch neue Modelle nach identischen Vorbildern mit Kurzkupplung.

Auch andere Hersteller zogen nach. Die Kunden wollten ja kurzgekuppelt fahren und Kupplungsköpfe leicht austauschen können. Liliput stellte sein Sortiment entsprechend um. Andere Hersteller, z. B. Lima, die sich Ende der 80er neu erfanden, ersetzten ihr überaltertes Sortiment durch Neukonstruktionen mit kulissengeführtem NEM-Schacht. Sofern das möglich war, wurden kulissengeführte Kurzkupplungen sogar in Loks eingebaut, um durchgängig „Puffer an Puffer“ fahren zu können.

Neben Roco und Märklin war Fleischmann der einzige Hersteller, der für den NEM-362-Schacht einen eigenen Kurzkupplungskopf hatte. Im Gegensatz zu Märklin und nach Neuentwicklung Roco konnte die Fleischmann-Profi-Kupplung nicht mit NEM 360 kuppeln. Mit der alten Fleischmann-Fallhakenkupplung auch nicht, aber kaum, daß die Profi-Kupplung da war, wurde ruckzuck nahezu das komplette H0-Sortiment darauf umgestellt. Schützen ließ Fleischmann die Profi-Kupplung augenscheinlich nicht, denn auch andere Hersteller boten Profi-Kupplungen als Ersatz für ihrerseits standardmäßig montierte NEM-360-Köpfe an.

Fleischmann war damals auch der Pionier bei Kurzkupplungen in Baugröße N. Die Profi-Kupplung ließ sich nebst Schwalbenschwanz und Kupplungsschacht wunderbar noch weiter einschrumpfen. Das endete letztlich damit, daß die Fleischmann-Profi-Kupplung zum Kurzkupplungsstandard in N wurde – und im Zuge der Selbstmodernisierung von Tillig nach der Wende auch in TT. Das bescherte ihnen einen wunderbar zierlichen Kupplungskopf und ersparte ihnen den Aufwand, noch eine Kurzkupplung zu entwickeln.

Die meisten anderen Hersteller beließen es in H0 bei der Einführung des NEM-362-Schachts mit, sofern der Platz vorhanden war, Kulissenführung und montierten NEM-360-Standardköpfe. Wer wirklich kurzkuppeln wollte, fand passende Kupplungsköpfe mittlerweile bei verschiedenen Herstellern.



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