Der Artikel aus dem Spiegel 34/1984 zum Skandal, weil Reagan die Bombardierung von Russland ankündigte:
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Ronald Reagan: »Was war das?«
Ein Witz des amerikanischen Präsidenten erschreckt die Welt. Spaßeshalber kündigte der Oberbefehlshaber der US-Streitkräfte den nuklearen Holocaust an - die Bombardierung der Sowjet-Union.
Empörung in Moskau, Aufregung der Bündnispartner in Europa - im Weißen Haus herrscht verlegenes Schweigen.
Der Humor an höchster Stelle gehört zur politischen Kultur Amerikas.
Neu aber ist das Präsidenten-Spiel mit dem Entsetzen.
Vietnam, kündete er scherzhaft an, würde er asphaltieren - ganz und gar, mit Städten, Wäldern und Flüssen, von oben bis unten.
Noch einfacher, meinte er, wären natürlich ein paar Atombomben.
Da war Humor schon kein Gegensatz mehr zum Krieg, der Witz drohte zu zünden.
"Ein Bömbchen im Herrenklo des Politbüros", meinte er später, "das wär''s!"
Der solchermaßen redete, Amerikas rechtskonservativer Senator Barry Goldwater, scheiterte als Präsidentschaftskandidat 1964 auch an dem Gelächter, das seinen platten Scherzen im Lande folgte.
Er machte auf dem rechten Parteiflügel jenem Mann Platz, der ihn einst lächelnd in eine Reihe mit Moses, Jesus Christus und Winston Churchill gestellt hatte - Ronald Reagan.
"Wir sind im Krieg", rief der politisierende Fernsehconferencier Reagan damals dem republikanischen Parteikonvent zu, "im Krieg mit dem gefährlichsten Feind, der je den Menschen auf ihrem langen Anstieg von den Sümpfen zu den Sternen entgegengetreten ist!"
Der Feind hieß "Totalitarismus", sein Hauptquartier lag im Kreml.
Dabei ist es geblieben.
Zwei Jahrzehnte später sitzt der Goldwater-Fan im höchsten Amt - "mit wenig Witz und viel Behagen" -, und sein seltsamer Frohsinn, seine krachenden Pointen verschlagen der Welt mehr noch als jene Herrenklo-Spitzen der Vergangenheit den Atem.
Die Rundfunk- und Fernsehtechniker der Kommunikations-Konzerne CBS und Cable News Network hatten ihre Geräte am vorletzten Sonnabend in einem Zimmer von Reagans kalifornischem Besitz "Rancho del Cielo" aufgebaut, jener Himmelsranch, auf der Reagan, 73, zahlreiche Wochenenden zu Pferde und mit der Axt verbringt.
Hier nimmt er gelegentlich Fünf-Minuten-Ansprachen an sein Volk auf, die, von der Republikanischen Partei bezahlt, über zahllose Privatstationen verbreitet werden: Pep-talk vom Präsidenten, eine Variante der Kaminfeuergespräche des großen Franklin D. Roosevelt.
Der professionelle Rhetoriker Reagan stimmt seinen Bariton vor der Aufnahme mit Sprechproben ein.
Schon vor zwei Jahren hatte er die Tontechniker mit einem ungewöhnlichen Test verblüfft: Die polnische Führung, sagte er mit der heiteren Gewißheit eines Zugauskunftsbeamten, sei "eine Bande verderbter, verlauster Pennbrüder".
Dagegen wirkte Alexander Haigs ziselierte Beleidigung seines damaligen britischen Kollegen im Außenamt, Lord Carrington - "ein doppelzüngiger Bursche" -, fast wie eine Schmeichelei.
Für solche Ausrutscher steht ein Libero im Weißen Haus bereit: Peter Roussel, stellvertretender Pressesprecher, ist der amtliche Pointenkiller des Präsidenten.
Er beruhigt die Journalisten, wenn Reagan Brasilien mit Bolivien, den Liberianer Doe mit Chinas verstorbenem Chairman Mao ("Chairman Moe") verwechselt.
Er sorgt dafür, daß größere Peinlichkeiten nicht an die Öffentlichkeit dringen.
Seit dem Polenwitz waren präsidiale Sprechproben "off the record", nicht zum Zitieren freigegeben - und wurden, dank verabredeter (und meist eingehaltener) Diskretion des amerikanischen Pressecorps auch nicht publik.
Mag sein, daß Ronald Reagan sich auf seiner Ranch besonders sorglos fühlte.
Die Tonbänder liefen jedenfalls "off the record".
Also sagte er: "Liebe Amerikaner, es ist mir ein Vergnügen, ihnen heute mitzuteilen, daß ich ein Gesetz unterzeichnet habe, das Rußland für immer ächtet. Wir beginnen mit der Bombardierung in fünf Minuten."
(Auf englisch: "My fellow Americans, I'm pleased to tell you today that I've signed legislation that would outlaw Russia forever. We begin bombing in five minutes.")
Im Hintergrund kicherten seine Berater.
Wagte sich hier "jene erbärmliche Lache hervor, deren Geschäft es ist, von Ernst und Erbarmen abzulenken" (Karl Kraus)?
Den Toningenieuren schien die Nähe von humoristischem Knalleffekt und nuklearem Erstschlag nicht lustig vorzukommen - das "off the record"-Abkommen wurde gebrochen, die Nachricht verbreitete sich in der Welt nach jenem Bewegungsgesetz, das einst den Psychoanalytiker Sigmund Freud faszinierte: "Ein neuer Witz wirkt fast wie ein Ereignis von allgemeinem Interesse; er wird wie die neueste Siegesnachricht von dem einen dem anderen zugetragen."
So kam er auch in Moskau an, und niemand lachte.
Im Gegenteil. "Prawda"-Kommentator Jurij Schukow wütete über sechs Spalten gegen den »atomaren Scherz": ein "monumentaler politischer Skandal".
Reagan habe "das herausposaunt, was er ständig im Sinn hat".
"Rude pravo" in Prag spürte "kalte Schauer den Rücken herunterlaufen".
Doch an Indignation ließ sich Bonns sozialdemokratischer Pressedienst ppp von niemandem übertreffen: In Reagans Sprechprobe entlarve sich ein "Maß an Zynismus und eiskalter Menschenverachtung, wie es sonst nur bei Schwerkriminellen und Massenmördern angetroffen wird".
Derlei bitterernste Verwandlung von Symptomen in Katastrophen verrät allerdings Ungeduld mit dem Großmacht-Humor des Atomzeitalters - und gewiß haben auch andere potentielle Nuklearkriegsherren in ähnlichen Scherzen Entspannung von der Verantwortungslast gesucht.
So soll Leonid Breschnew im Oktober 1970 den französischen Präsidenten Georges Pompidou bei einer Besichtigung des sowjetischen Raumfahrtzentrums Baikonur aufgefordert haben, auf einen bestimmten Knopf zu drücken.
Nach einigen Sekunden, berichtet der Pariser "Matin", habe Breschnew seinem Staatsbesucher gesagt: "Herr Präsident, Sie haben soeben Paris zerstört."
Und Ronald Reagan scherzte schon früher über einen alten Farmer: Befragt, wo er denn am liebsten wäre, wenn die große Bombe platzt, antwortete der Bauersmann: ''Am liebsten dort, wo ich sagen kann: Was war das?''
Befremdlich wurde derlei fröhlicher Umgang mit der Apokalypse erst durch die offenkundigen Führungsmängel eines Präsidenten, der weder dem Gewicht seiner Aufgabe als De-facto-Chef des westlichen Bündnisses noch der komplizierten weltpolitischen Lage gerecht zu werden scheint.
So kriegerisch Lyndon Johnson war, so gebrochen Richard Nixon, so durchschnittlich Gerald Ford und so detailverhext Jimmy Carter - bei keinem der Reagan-Vorgänger kombinierten sich intellektuelle Unbedarftheit, ideologisches Vorurteil und altersbedingter Verschleiß so auffällig wie bei Reagan. Und keiner trieb es mit den Witzen so weit.
Reagans Hofstaat hält dabei durchaus mit.
So schlug sein engster Berater Edwin Meese spaßeshalber vor, die MX-Rakete (mit zehn Sprengköpfen und nach Expertenmeinung eine typische Erstschlagswaffe) mit der Aufschrift "Liebesgrüße aus Washington" zu versehen.
Angesichts eines Wildwest-Revolvers im Büro seines damaligen Nationalen Sicherheitsberaters William Clark fiel dem ehemaligen Film-Cowboy ("Law and Order" - "Die Hand am Colt") ein schöner Name für die Endzeitwaffe mit 12 000 Kilometer Reichweite ein: "Peacekeeper", Friedenshüter - "Peacemaker" nannten die Pioniere Amerikas ihre Schießeisen.
In solcher Humorigkeit vermißten vorige Woche selbst die publizistischen Freunde des Präsidenten den Sinn für Amtswürde und Verantwortung.
Der bisherige Reagan-Fan William Safire, Kolumnist der "New York Times", will fortan darauf verzichten, sich in vertraulichen Gesprächen im Weißen Haus "Witze über Armut, Krebs und den atomaren Holocaust" anzuhören.
Vor über zehn Jahren hatte Präsident Nixon einem Senator im Oval Office anvertraut, er könne jederzeit "in das Zimmer nebenan gehen, einen Knopf drücken - und 20 Minuten später wären 60 Millionen Menschen tot".
Die Bemerkung, ebenso korrekt wie erschreckend, erregte damals großes Aufsehen: weder weil sie scherzhaft noch weil sie als Drohung gedacht war, sondern weil sie das schwarze Geheimnis präsidialer Machtfülle so banal ausdrückte, daß das Böse des nuklearen Abschreckungs-Arrangements schlechthin sichtbar wurde.
Eines aber blieb doch immer klar: Richard Nixon verstand das weltgeschichtliche Gewicht seines Amtes im selben Maße wie sein Nachfolger Gerald Ford, der bei Gelegenheit - mit Tränen in den Augen - seinem Widerpart Breschnew das Versprechen entlockte, "niemals auf den Knopf zu drücken".
Nicht aus Sympathie, sondern eher im Gefühl gemeinsamer Verantwortung für den Weltfrieden umarmte später Jimmy Carter den Kreml-Chef bei der Unterzeichnung von Salt-2 in Wien.
Ronald Reagan indes wußte kürzlich nicht einmal zu sagen, welche Sprengköpfe auf den Nachrüstungs-Cruise-Missiles stecken: atomare. Einen sowjetischen Führer hatte er nie kennengelernt, und seinem Genfer INF-Unterhändler Paul Nitze gab er die plumpe Macho-Botschaft auf den Weg: "Sag den Russen, daß sie es mit einem echten Mann zu tun haben."
Ein echter Mann, gewiß; doch ist er auch ein echter Präsident?
Kein Zweifel - das neue amerikanische Selbstbewußtsein, manifest im patriotischen Siegesrausch von Los Angeles, die amerikanische Erholung von Rezession, Inflation und Arbeitslosigkeit gelten als Reagans Errungenschaften.
Doch der Kalifornier hat auch das Bild seines Amtes verändert - er hat Pomp mit Gewichtigkeit und Zeremonie mit jener Würde verwechselt, die noch jedem amerikanischen Präsidenten aus nationaler, demokratischer Geschichte und aus der Verantwortung weltweiter Macht zugewachsen sind.
Dieser Mann, da gleicht er Helmut Kohl, stöhnt nicht unter der Last der Aufgabe - er zieht ein Nickerchen vor.
Gelegentlich, so verriet sein Berater Michael Deaver, schläft er schon mal während der Kabinettssitzungen ein: "Wenn es langweilig wird."
Das Amt, vom Vorgänger Carter als Martyrium ausgeübt, hatte vier Reagan-Vorgänger niedergestreckt (Attentatsopfer nicht mitgezählt); Ronald Reagan verwaltet es im Traum.
Die Präsidentschaft, im 18. Jahrhundert erfunden, rückt den gewählten Amtsinhaber vorübergehend an die verlorene Stelle des europäischen Monarchen: George Washington lehnte den Titel "Majestät" erst nach reiflicher Überlegung ab.
Die moralische Erniedrigung der Institution durch Nixon; die kaum zu bewältigende Fülle der Entscheidungs- und Sachzwänge; die Zwangsjacke der Legislative; die Pflicht jedes Präsidenten, nicht im Heer unterwürfiger Lakaien steckenzubleiben - dies alles blieb leichter zu bewältigen als die Herausforderung, die in der Stellung selbst steckt: "Charisma" zu entwickeln.
Es ist jene Eigenschaft, die der Idee der amerikanischen Präsidentschaft am besten entspräche, die Aufgabe, demokratisch aus politischer, ökonomischer und spiritueller Not zu führen.
Ronald Reagan hat sich ihr auf fast geniale Weise entzogen; zwischen die ernste Würde des Amtes und seine Person hat der "compulsive joker", der zwanghafte Possenreißer, eine Welt der Anekdoten gelegt, als wollte er sagen: "Ich bin wie jedermann, ich bin einer von euch. Immer fröhlich, immer heiter, Gott hilft weiter."
Der politische Substanzverlust, den Reagan im Weißen Haus verkörpert, ist von Anfang an aufgefallen - die demokratische Opposition hat es, im Gegensatz zu den Republikanern, auf den Begriff gebracht: "Von den meisten Dingen, über die er redet", sagt der Sprecher des Repräsentantenhauses Thomas P. O''Neill, 71, "versteht er gerade so viel, wie auf dem Zettel steht, von dem er abliest."
Als Reagan jüngst auf seiner Ranch den Vatikan-Botschafter empfing, wollten Reporter gern Näheres über die Aussichten für amerikanisch-sowjetische Weltraum-Gespräche wissen.
Verständnislos, mit leerem Blick, starrte Reagan in die Runde.
Rettend griff Ehefrau Nancy ein: Wie eine Souffleuse, kaum die Lippen bewegend, raunte sie ihrem Mann zu: "Tun, was wir können." Erleichtert versicherte nun der Präsident: "Wir tun alles, was wir können."
Aus den Gesprächen mit den Russen wurde nichts, und das konnte nicht verwundern.
Schon 1976, als er den Vorwahlkampf gegen Gerald Ford verloren hatte, vertraute Reagan seinem Sohn Mike einen alten Zelluloid-Traum an: "Weißt du, warum ich wirklich sauer bin? Ich habe mich so auf meine erste Salt-Verhandlung mit Breschnew gefreut.
Ich wollte dem Dolmetscher zuhören, wie er mir anderthalb Stunden übersetzt, welche Konzessionen Breschnew dem Präsidenten der USA als Preis für die Freundschaft mit Rußland zumutet. Dann wäre ich langsam aufgestanden, um den Tisch herumgegangen, und hätte Breschnew ins Ohr geflüstert: ''Njet''."
Beim "Njet" ist es geblieben - die Pointe ersetzt die Politik, die Anekdote das Konzept: Als hätte Reagan den Ernst des Amtes mißverstanden.
Er hätte keine Außenpolitik?
O doch, das State Department habe einen Brief an den Kreml geschickt.
Inhalt: "Rosen sind rot, blau sind die Violen, laßt Salvador in Ruh', aber auch Polen."
Der erste, der Reagans Desinteresse an der Sicherheitspolitik aus nächster Nähe beobachtete, war Vorgänger Carter.
In seinen Memoiren "Keeping Faith" beschreibt er, wie er seinen Nachfolger einweiht in die Geheimverträge der USA und die Prozeduren für den Atom-Notfall.
Reagan saß stumm im Sessel, "und ich konnte nicht verstehen, wie er sich all dies durch bloßes Zuhören merken wollte".
Er könne sich schon erinnern, sagte Reagan - doch bei der nächsten Atempause Carters fragte ihn der 40. Präsident der USA, ob er vielleicht die Unterlagen von Nr. 39 behalten dürfe.
Bücher liest Reagan keine; seine Abende sind mit Empfängen und TV-Genuß ausgefüllt.
"Tage gibt es", so ein ehemaliger White-House-Korrespondent des "Boston Globe", "an denen der Terminkalender des amerikanischen Präsidenten buchstäblich leer ist."
Und doch ist der Mann erfolgreicher als fast alle seine Vorgänger in dem Bestreben, seinen Ruf und sein Ansehen zu trennen vom unberechenbaren Einerlei des politischen Alltags.
Diplomatische Pannen und außenpolitische Katastrophen - 265 amerikanische Soldaten starben im Libanon für eine völlig unüberlegte Nahost-Politik - scheinen mit ihm nichts zu tun zu haben.
Ronald Reagan tritt auf wie ein professioneller Talk-Show-Master, neben dem eine alte Institution sitzt - die Präsidentschaft.
Zwischen ihr und der unterhaltungsseligen Fernseh-Nation vermittelt er mit der kameragewohnten Noblesse eines Groß-Conferenciers: "Kennen Sie den Witz von der irischen Frau, die ..."
Reagan will gefallen; der TV-Master weiß Applaus zu produzieren wie Carter einst das Gefühl nationaler Malaise.
"Ich nehme an, daß jeder Schauspieler davon träumt, einmal den Präsidenten der Vereinigten Staaten zu spielen", sagt der demokratische Abgeordnete Morris Udall über Reagan, "er aber spielt ihn nicht nur - er ist es, was den Spaß an der Sache sicher erhöht."
Reagans Weise, seine Pflichterfüllung heiter vorzuführen wie eine Art komischer Pause in der Präsidentschaftsgeschichte, hat ihm die Sympathien seiner Zuschauer gewonnen.
Wenn er stolpert, so doch nur in einem Skript.
Das ernste Spiel der Politik - er sieht es von der heitersten Seite: Hereinspaziert.
Er versteht es nicht, daß die Europäer über leichtfertige Bemerkungen zu einem "begrenzten Atomkrieg" nicht verständnisvoll nicken. Er ahnt kaum, daß er selbstbewußte Latinos kränkt, wenn er nach einer Südamerika-Reise mit dem Stolz eines Christoph Columbus verkündet: "Ihr werdet staunen, das sind alles ganz eigenständige Staaten."
Daß seine Unempfindlichkeiten auch die eigene Bevölkerung treffen können, kümmert so lange nicht, solange die Opfer seiner Scherze in der Minderheit bleiben. "Man hat uns erzählt", so Reagan in seinen kalifornischen Gouverneurstagen, "daß jeden Abend 17 Millionen Amerikaner hungrig ins Bett gehen. Well, wahrscheinlich stimmte das. Die machten alle Diät."
Arbeitslosenversicherung sei der Eintritt für "bezahlten Schnorrer-Urlaub" - der Millionär war dagegen.
Und als die Entführer der Verlegertochter Patty Hearst die Behörden erpreßten, Nahrungsmittel an die Armen Kaliforniens auszuteilen, da wünschte der "Governor" den meist schwarzen Empfängern "Botulismus", jene gewöhnlich tödliche Lebensmittelvergiftung - off the record, rein privat.
Mag sein, daß derlei feindselige Witze nicht allenthalben übelgenommen werden, weil sie heimliche Ängste aufdecken, weil sie Blitzableiter für aufgestaute, innergesellschaftliche Konfliktpotentiale sind.
Reagan, schwärmt sein gleichgesinnter Berater Michael Deaver, "ist die einzige Person, der ich je begegnete, die Dinge nicht abwägen muß. Seine Ideen scheinen aus der Tiefe des Mannes zu kommen."
Doch woher stammen seine oft komischen Tatsachenbehauptungen?
"Der Präsident", schreibt einer seiner Biographen, "ist besser dran als ein Politiker mit zu vielen Zweifeln. Aber Reagan hat zu wenige."
Einen solchen Mann, so der US-Publizist Robert Kaiser, könne man sich nur "in einer Gesellschaft vorstellen, die so antiintellektuell ist wie unsere".
Da macht es nicht viel, daß der Präsident glaubte, in seinem Land gebe es keine Schulen mit Rassentrennung mehr.
Da lacht kaum einer, wenn er von den "Zehn Geboten Nikolai Lenins" spricht; da ist es normal, daß er Moskaus Außenminister Gromyko zum "Botschafter" degradiert - aus der Ferne gleicht ein Russe dem anderen.
Und wo liegt Genf?
"Zwei unserer Delegationen sind in Genf", sagte er bei Gelegenheit, "und eine dritte, glaube ich, hält sich immer noch in der Schweiz auf."
Als der Präsident der Vereinigten Staaten bei einem Arbeitsessen am Rande des Weltwirtschaftsgipfels von Versailles seine Spickzettel durcheinanderbrachte, antwortete er angeblich zur Verblüffung seines Gastgebers Mitterrand auf Fragen, die der Franzose noch gar nicht gestellt hatte.
Dem israelischen Premier Schamir erzählte er, wie er jüdische KZ-Insassen im besiegten Deutschland von 1945 filmte.
Dabei hatte er den Zweiten Weltkrieg als "Captain" eines Propaganda-Corps in der zweiten Realität von Südkalifornien verbracht.
Seit seiner Entlassung aus der Armee im September 1945 war Ronald Reagan vom Kriegshandwerk fasziniert.
Heute imponieren ihm die Generale seiner Teilstreitkräfte ungemein.
Jede Uniform provoziert einen reflexhaften Militärgruß des Oberbefehlshabers der U. S. Forces.
Einen seiner größten Public-Relations-Erfolge feierte der Präsident im Juni auf den Schlachtfeldern der Normandie beim 40. Jahrestag der alliierten Invasion.
Seine Rührung an der Kampfstätte war echt - als wäre er dabeigewesen.
Und ungewöhnlicherweise blieben seine Auftritte am Invasionsstrand, seine Reden mit den Veteranen von den üblichen Ausrutschern verschont.
"Seine gelegentliche Fähigkeit, Fakten zu behalten, wird als Triumph gefeiert", schreibt Richard Cohen, Leitartikler der "Washington Post".
Es ist, als habe sich die ganze Nation entschlossen, nach all den Enttäuschungen diesen Präsidenten zu mögen, und weht der Fahrtwind der Geschichte ihm auch noch so heftig ins Gesicht.
Gegenkandidat Mondale, nach der Kür seiner Vize-Frau Geraldine Ferraro vorigen Monat bis auf wenige Punkte auf das Gunst-Niveau Reagans aufgestiegen, liegt inzwischen wieder weit zurück: Der republikanische Parteitag von Dallas wird diese Woche seinem Präsidenten Reagan eine grenzenlose Huldigung darbieten.
Denn hier steht der Mann, dem es gelungen ist, die nationale politische Unterhaltung herauszuführen aus dem Reich des Konkreten, also Komplizierten, ja Langweiligen, in die aufregende Welt der großgeschriebenen Gefühle.
Sie betreffen Vaterlandsliebe, Treue, Fleiß, Tapferkeit, Opfermut und jegliche Form von Heldentum - jene Tugenden, deren mythopoetische Vermarktung einst so eindrucksvoll in Hollywood begonnen hatte.
Dort, in seiner Amtszeit als Gewerkschaftsfunktionär der Schauspieler-Gilde, hatte Reagan von 1950 an nach unerfüllter Leinwand-Karriere seine politische Identität gefunden - im Hauptstrom jener Epoche, im Kampf wider die "Wühlarbeit des Kommunismus".
Aus der Verachtung des "Sowjet-Imperialismus", aus der Erkenntnis, wo denn der "Kern des Bösen" (focus of evil) in Wahrheit stecke - im Kreml -, erwuchs der Reagan-Administration die Gewißheit, im Führerstand der Geschichte zu stehen: auf einem Nebengleis, unaufhaltsam verrostend, der kraftlose Revolutionsexpreß des Kommunismus.
"Lachen", meinte einst der französische Philosoph Henri Bergson, "ist die Art der Gesellschaft, Nonkonformisten zu bestrafen und sie anzupassen."
Reagans Scherze, kein Zweifel, dienen der Reglementierung des Außenseiters der Menschheit, Rußland.
"Am liebsten", sagt der amerikanische Präsident, "sammle ich Witze über die Sowjet-Union."
Sein von ihm selbst erzählter Lieblingsscherz: "Ein Kommissar besucht eine Kolchose und hält den ersten Bauern an, den er trifft, um ihn zu fragen, wie ihm sein Leben gefalle. ''Wunderbar'', sagt der Mann, ''alle hier fühlen sich pudelwohl.'' - ''Na'', sagt etwas ungläubig der Kommissar, ''was ist mit der Ernte?'' - ''Alles in Ordnung'', antwortet der Bauer. ''Auch die Kartoffeln?'' - ''Mein Herr, wir haben Berge von Kartoffeln, die reichen fast bis an die Füße Gottes.'' Da bellt der Kommissar: ''Moment mal. In der Sowjet-Union gibt es keinen Gott!'' Sagt der Bauer: ''Nun ja, Kartoffeln gibt es auch nicht.''
In der Sowjet-Union werden Witze über die Politiker gemacht, in den USA witzeln die selber.
Radio Eriwan sendet aus dem Weißen Haus.
Was die sowjetischen Zuhörer (und die nervösen Europäer) irritiert, ist aber vor allem die politische E-Musik zwischen den amerikanisch-politischen Unterhaltungssendungen.
Der Präsident und seine diplomatischen Berater haben es vielleicht nie so recht verstanden: Die in- und ausländischen Kritiker seiner Scherze, seiner Randbemerkungen und seiner Politik hören hinter Reagan andere Stimmen.
Und was die sagen, fügt sich mit seinen antisowjetischen Scherzen zu einem bedrohlichen Chor.
Da verkündet Reagans erster Sowjet-Berater, der in Polen gebürtige Harvard-Professor Richard Pipes, in einem Interview mit dem Gleichmut eines Todgeweihten, daß es keine Alternative zu einem Krieg mit der Sowjet-Union gebe, wenn die Russen ihrem Kommunismus nicht abschwören.
Die Wahrscheinlichkeit eines Atomkrieges veranschlagte der Gelehrte mit 40 Prozent; die ungewollt humoristische Note lieferte er nach: "Wir dürfen bloß keine Angst haben ... Europa fürchtet sich ja so sehr."
Vielleicht weil sie Reagans alte Dauer-Rede kannten, die der Ex-Schauspieler jahrelang als hochbezahlter Propagandist des Toaster-, Elektrobirnen- und Rüstungskonzerns General Electric gehalten hatte: "Viele Menschen unter uns glauben nicht, daß wir uns im Krieg befinden. Aber der Krieg ist vor 100 Jahren von Karl Marx erklärt und 50 Jahre später von Nikolai Lenin bestätigt worden."
Seit Jahrzehnten beharrt Reagan darauf, Lenin habe mit Vornamen Nikolai geheißen.
Wladimir Uljanow setzte von 1901 an ein N. vor sein Pseudonym Lenin. Die Bedeutung des Initials ist unbekannt.
Was war von dem Beamten der Reagan-Administration Colin S. Gray zu halten, der schon 1980 schrieb: "Die Vereinigten Staaten sollten eine (nukleare) Niederlage der Sowjet-Union einplanen - und zwar so, daß die Kosten ein Überleben der Vereinigten Staaten ermöglichen. Die Idee eines amerikanischen Atom-Sieges umfaßt alles - von der Wiederherstellung des territorialen Status quo ante in Europa bis - in extremis - zur Zerstörung des sowjetischen Staates."
Kein Höllengelächter erntete Caspar Weinberger wenig später, als er, ganz Kirchgänger, auf die Frage eines Harvard-Studenten antwortete, ob er glaube, daß die Welt durch Menschenhand oder göttliche Intervention enden werde: "Ich habe das Buch der Offenbarung gelesen. Ja, ich glaube, die Welt wird untergehen - durch Gottes Willen, hoffe ich -, doch wir haben immer weniger Zeit."
Ähnlich sieht es sein Chef; auch er glaubt, "daß diese Welt nicht weiter existieren kann, ohne daß ein Narr, ein Wahnsinniger oder ein Zufall einen Krieg auslöst, der unser aller Ende bedeutet".
"In fünf Minuten beginnt die Bombardierung"?
Auf die Sowjets mußte Reagans schauerlicher Witz wie die logische Konsequenz solcher Äußerungen gewirkt haben.
Auf alle Fälle wollten die gewieften Dialektiker den Propaganda-Effekt der bitteren Reagan-Pointe nicht vergessen.
Der Präsident erleichtert ihnen die Aufgabe.
Als er vorige Woche den israelischen Botschafter in Washington verabschiedete, lachte Reagan an der Tür und sagte, "ich werde Rußland in den nächsten fünf Minuten nicht bombardieren".
Solch skandalöser Abwiegelungs-Scherz verstärkte Moskaus amtliche Empörung.
Wahr ist, daß seit dem mörderischen System des Georgiers Stalin der russische Sinn für Satire und Ironie an der Staatsspitze verkümmert ist und daß er dort auch keinen Platz hat.
An der Granitbalustrade des Lenin-Mausoleums am Roten Platz sind an den Festtagen der UdSSR nur die steinernen Physiognomien der Politbüromitglieder zu besichtigen.
Und im Gegensatz zu Reagan verzog Gromyko noch nie seinen Mund zum Lächeln, auch dann nicht, als er den Amerikanern "besonders bestialische Mittel bis hin zum staatlichen Terrorismus" vorwarf.
Ganz ernst auch meinte es der fröhliche Chruschtschow, wenn er freundlichen Zuhörern aus dem Westen auf den Untergang des Kapitalismus zuprostete.
Ansonsten aber beschränkt sich das Wesen der Kreml-Belustigung auf die feuchten Vorgänge der Wodka-Empfänge und -Gelage.
Kein tragischer Zug, wohl aber ein antrainierter Witz, etwas mechanisch, gleichwohl erheiternd, gehört zur politischen Kultur Amerikas.
Der Redner, ob Henry Kissinger oder der Provinzbürgermeister Jones, fängt seine Zuhörer mit dem "flagwaver" ein - der Anekdote am Anfang der Ansprache, deren Pointe entspannt, dem Witz, der jedermann Gelegenheit gibt, die Zähne zu zeigen - im Gelächter.
Die kurzen, trockenen "Oneliner" des Präsidenten, einzeilige Understatements, haben ihm den Ruf eingetragen, ein Spaßvogel noch auf dem Operationstisch zu sein.
Attentatsopfer Reagan 1981: "Es gibt kein schöneres Gefühl, als das Ziel eines erfolglosen Anschlags zu sein."
Das hatte sich einst der junge Churchill einfallen lassen.
Aus der Tiefe seines Gemüts kommen eben vor allem Karteikarten, aus Hollywood die Gags: "Es ist ein Gerücht, daß ich nur deswegen immer jünger aussehe, weil ich immer ältere Pferde reite."
An dieser wohlerprobten Stelle verzeichnet das Protokoll stets Gelächter.
Melancholie, die Einsicht, daß alle Begriffe ins Haltlose führen, daß Herrschaft vergebene Mühe ist, galt einst als Krankheit der Könige: Sie stellte sich im Alter ein - nicht als Hoffnungslosigkeit, sondern als Schmerz, der unter der Bürde von Verantwortung entsteht.
Ronald Reagan aber will nicht altern, will lieber Witze machen, die Nation bei Laune halten.
Das hat es noch nicht gegeben - der Präsident als Erzschelm am eigenen Hof.
Er hat es schwer, denn stets war es die Aufgabe der Narren, innerhalb der Grenzen des Erlaubten das Unerlaubte vorzuführen. Bestimmt der Narr jene Grenzen selbst, hört der Spaß auf.